F)   Siedlungs- und sozialgeographische Struktur Bottrops

    Bis etwa 1871 war Bottrop eine rein ländliche Siedlung. Die anfangs noch wenigen Arbeiter der entstehenden Zechen
    kamen von den Bauernhöfen der näheren Umgebung und aus dem Münsterland. Sie bauten sich meist ein eigenes
    Häuschen auf vom väterlichen Grundbesitz ererbten Land und wohnten so über das ganze Gemeindegebiet verstreut,
    oft auch an den Ausfall- und Ringstraßen. Es entstand eine Arbeiterstreusiedlung. Die Arbeiter nahmen lange Anfahrwege
    in Kauf. Noch heute stehen vereinzelt diese kleinen Arbeiterhäuschen ( eingeschossig ohne Keller, meist aus Fachwerk )
    inmitten später entstandener Siedlungen mit mehrstöckigen Häusern.
    Ab 1890 reichte die Zahl der einheimischen und aus der näheren Umgebung stammenden Arbeiter nicht mehr aus.
    Für die große Zahl der neuen Arbeitskräfte mußten zunächst ausreichende Wohnungen geschaffen werden, um die Berg-
    leute an die Zeche zu binden und so eine Stammbelegschaft zu bekommen. Die Gesellschaften hatten schon frühzeitig
    möglichst viel Gelände rings um ihre Zechen aufgekauft, auf dem nun die Bergarbeiterkolonien entstehen konnten.
    Die Bergleute sollten möglichst kurze Anmarschwege haben. Außerdem wurden mögliche Belästigungen durch Lärm und
    Abgase ( vorwiegend Westwind ) durch geeignete Standortwahl der Kolonien weitgehend vermieden. Die Kolonien
    entstanden also durchaus planvoll. Bedingt durch die Lage der Zechen entstanden die Kolonien weit außerhalb des Dorf-
    kerns an der Peripherie des Gemeindegebiets. Daher wirkt der Grundriß der Stadt noch heute stark dezentralisiert.
    Zwischen dem Dorfkern und den einzelnen Kolonien entstanden Verbindungsstraßen. Das Straßenbild zeigt eine stern-
    förmige Anordnung mit dem Dorfkern in der Mitte. Da die Kolonien nicht gleichzeitig entstanden, ist eine deutliche
    Entwicklung abzulesen. Barackenähnliche Massenquartiere oder kasernenartige Häuserreihen, wie sie um 1860 im älteren
    Revier ( z.B. in Essen oder Bochum ) entstanden, gibt es in Bottrop nicht mehr. In der ältesten Kolonie, der sogenannten
    Engelbert-Kolonie ( Prosper-, Kamp- und Albrecht Dürerstraße ), sind die Häuser noch einstöckig ohne Garten.
    Jeweils eine Familie bewohnte eine Hälfte dieser Doppelhäuser. Um die Jahrhundertwende entstanden die neuen
    Siedlungen im englischen "Cottage"-Stil. Die Doppelhäuser sind jetzt eineinhalb-geschossig, liegen weit auseinander und
    haben bereits Gärten. In diesem Stil wurden die Ebel-, Prosper II- und Prosper III-Kolonien erbaut. Diese Siedlungen mit
    ihren Längs- und Querstraßen wurden noch schematisch und schachbrettartig angelegt. Erst ab 1910 wurden die neuen
    Siedlungen ( z.B. Rheinbaben-Kolonie ) aufgelockerter und großzügiger geplant. Nach wie vor herrscht das ein- bis
    zweistöckige Doppelhaus mit großem Garten vor. Ab 1920 werden bevorzugt Einfamilienhäuser mit großzügigen
    Vorgärten und Gärten gebaut, die Kolonien erhalten Kleinsiedlungscharakter ( Fuhlenbrock, Welheim, Teile der Rhein-
    baben-Kolonie ).
    In der ersten Zeit nach dem 2. Weltkrieg wurden wegen des großen Wohnungsmangels an Stelle der zerstörten Häuser
    häßliche Mietskasernen errichtet. Später ging man aber wieder zum Bau von Kleinsiedlungen ( Einfamilien- oder Doppel-
    häuser im Landhausstil ) über, z.B. in der Hanielsiedlung.
    Die Ausfall- und Verbindungsstraßen von den Kolonien zur "Stadt" wurden während dieser Zeitspanne ebenfalls gebaut.
    Der alte Dorfkern wurde Geschäfts- und Einkaufszentrum und Sitz der Verwaltung. Die öffentlichen Gebäude ( Rathaus,
    Finanzamt, Arbeitsamt, Amtsgericht, Polizeipräsidium ) sind hier auf engem Raum konzentriert.
    Trotz der schnellen Entwicklung Bottrops wurde die Stadt nicht eine trostlose Zusammenballung von Massenquartieren.
    Die Besiedlung ist weit mehr aufgelockert als in anderen deutschen Städten entsprechender Industrieintensität.
    Dies ist auf die Flachbauweise mit Gartenflächen bei fast jedem ( ! ) Haus zurückzuführen. Bottrop zeigt, vom Kern
    abgesehen, als äußeres Charakteristikum ein Zerfließen der Siedlung nach allen Seiten, eine dezentralisierte Anlage.
    Zwischen einzelnen Ortsteilen und Straßenzügen liegen Felder und Grünflächen, die bis nahe an den Ortskern heranreichen.
    Einen fast ländlichen Charakter haben noch die Ortsteile Vonderort, der westliche Teil von Eigen und Teile von Welheim
    und Boy, da hier keine Zechensiedlungen entstanden. Der Gefahr der Beseitigung von Wald- und Grünflächen zwecks
    Besiedlung wurde durch Gesetzgebung des Ruhrsiedlungsverbandes entgegengetreten. So konnten im Nordwesten der
    Stadt weite Erholungsgebiete geschaffen werden ( Stadtgarten, Stadtwald, Köllnischer Wald, Vöingholz ).
    Etwa 50 % des Stadtgebiets sind unbebaut und dienen als Acker, Garten, Grünland, Park und Grünanlagen der Erholung
    der Bevölkerung.
    Um 1870 / 80 begann die Entwicklung Bottrops von einem landwirtschaftlich orientierten Einzelhofgebiet mit kleinem
    dörflichen Mittelpunkt zu einer charakteristischen Bergarbeiterstadt. Die Zunahme der Bevölkerung steigt in den folgenden
    Jahren gewaltig an, von 1900 bis 1916 steigt die Einwohnerzahl um 300 % auf 76000, 1953 wurde dann die 100 000-
    Marke überschritten :
Bevölkerungsentwicklung
                         Bevölkerungsentwicklung von 1865 bis 1970

    Als typische Bergbaustadt kamen noch 1953 auf 100 männliche Einwohner auch 100 weibliche (Bundesdurchschnitt etwa
    100 : 113 ), heute ist das Verhältnis etwa 100 : 108. Bottrop galt lange Zeit als ehefreudigste und geburtenreichste Stadt
    Deutschlands und steht in dieser Hinsicht auch heute ( 1971 ) noch in der Spitzengruppe der westdeutschen Städte.
    Auf 1000 Einwohner kamen 1952  11,9 Eheschließungen, 1953 noch 10,4 . Auf 1000 Einwohner wurden 1953  19,4
    Kinder geboren, im Bundesdurchschnitt nur 11.
    Der große Arbeitskräftebedarf Ende des vorigen Jahrhunderts konnte nur durch Einwanderer aus anderen Landesteilen
    gedeckt werden. Der größte Teil der Menschen kam aus den östlichen Reichsprovinzen und aus Polen. Die Zechen-
    gesellschaften schickten damals Werber in diese rein agrarischen Gebiete. Da neu angeworbene Arbeiter am liebsten
    dorthin zogen, wo bereits Landsleute seßhaft geworden waren, bildeten sich im Ruhrgebiet klar abgrenzbare landsmann-
    schaftliche Gruppierungen. Oberschlesier kamen mit Vorliebe nach Bottrop, Masuren nach Gelsenkirchen, Westpreußen
    nach Wattenscheid und Leute aus dem Kreis Gostyn ( Polen ) nach Oberhausen oder Wanne.
    Auch nach dem 2. Weltkrieg ist diese Tendenz bei den Flüchtlingen bemerkbar. 5110 Menschen von jenseits der Oder-
    Neiße-Linie kamen damals nach Bottrop, davon über 2000 Schlesier ( Patenstadt wurde Gleiwitz  in Oberschlesien ).
    Der größte Bevölkerungsanteil in Bottrop stammt aus Schlesien, Posen, West- und Ostpreußen. Diese ganze Gruppe
    bezeichneten die Einheimischen meist pauschal als "Polen", obwohl diese Gebiete damals zu Deutschland gehörten.
    Die Zuwanderer aus diesen Gebieten sprachen neben deutsch meist polnisch, manche auch nur polnisch oder russisch.
    1900 gaben 14000 Bottroper, also über 50 % der Bevölkerung, polnisch als Muttersprache an (daher "Klein-Warschau").
    In den Nachbarstädten war es ähnlich. Schalke 04 nannte man die "polnische Nationalmannschaft". Es kamen aber auch
    zeitweilig Zuwanderer aus Holland, Belgien, Luxemburg und auch aus Italien, die aber meist nicht seßhaft wurden.
    Dieses bunte Völkergemisch brachte natürlich mannigfache Probleme, nicht nur sprachlicher Art, mit sich. Noch heute
    sprechen manche ältere Leute mit deutlich polnischem Akzent, polnisch selbst wird nur noch ganz selten gesprochen.
    Es gibt keine Polen oder Schlesier mehr, aber auch keine Westfalen und Rheinländer im Ruhrgebiet, sondern es gibt
    jetzt eine mit Schattierungen versehene Gemeinsamkeit, etwas Unverwechselbares, das zuvor nicht vorhanden war,
    das zwar im Westen rheinisch, im Osten westfälisch akzentuiert ist, das aber insgesamt aus dem Verschiedenen ein völlig
    Neues entwickelte : Es entstand ein neuer Menschenschlag. Man spricht keinen Dialekt, aber das Hochdeutsche hat eine
    besondere Färbung und Klangfarbe bekommen, die Menschen außerhalb des Reviers sofort bemerken. Nur noch wenige
    Bottroper beherrschen das Plattdeutsche. In neuen Ruhrgebiet, in dem der Zechenkumpel nur noch geringen Anteil an den
    vielen neuen Berufsgruppen hat,  und selbst im Bergbau der Anteil der Angestellten von 1950 bis 1963 um 62 % stieg,
    spricht nicht mehr nur der Arbeiter die Sprache des Arbeiters. Alle Kreise haben diese etwas grobe, knappe, aber treu-
    herzige Sprache angenommen, auch jene, die nie den Lärm der Preßlufthämmer oder Walzstraßen mit kurzen, prägnannten
    Zurufen übertönen mußten. Diese "Kumpelsprache" ( Anmerkung : später "Bottropisch" genannt ) wird es wahrscheinlich
    noch dann geben, wenn es längst keinen Kumpel mehr gibt.
    Die Neuzugezogenen pflegten ihr Brauchtum in den verschiedensten Vereinen und Landsmannschaften und assimilierten
    sich nur langsam. Relikte aus dieser "Pionierzeit" des Ruhrgebiets ist die noch heute zu beobachtende Vorliebe des Berg-
    manns und Arbeiters für Brieftauben, Kleintierzucht und Gartenarbeit.

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